So wie früher

Auf zahlreichen Eisacktaler Törggele-Höfen lassen junge Gastgeber, Bauern und Winzerinnen den Ursprung der Buschenschank-Tradition neu aufleben. Mit historischen Gerichten – und zeitgenössischer Verve. Drei Besuche voller Genuss

Im Eisacktal gilt es als „fünfte Jahreszeit“: Im Oktober und November, wenn die Trauben geerntet und die Weinberge goldgelb sind, trifft man sich nach einer kurzen Wanderung durch Dörfer und Herbstwälder in den Bauernstuben und verkostet Wein, hausgemachte Schlutzkrapfen, Hauswürste mit Sauerkraut, süße Krapfen und gebratene Kastanien. Die beliebte Tradition geht auf den alten Brauch des Verkostens von jungem Wein zurück, der Begriff „Törggelen“ kommt von der „Torggl“ (lat. torquere, drehen) einer hölzernen Weinpresse.

Die Blätter der Weinreben in der Ortschaft Pinzagen über Brixen sind herbstlich gefärbt. Rot, braun, gelb und golden. In der Stube brummt der Staubsauger. Auf dem Herd köchelt die Rindsuppe. Mindestens drei Stunden braucht die Brühe, bis sie perfekt schmackhaft ist. Es ist Törggelezeit am Gummerer Hof. Die arbeitsreichste im Jahr. „Mein Arbeitstag hat nun neunzehn Stunden“, sagt Philipp Gummerer. Der 38-Jährige wischt sich die Hände am blauen Schurz um seine Hüfte ab und wirft einen prüfenden Blick in die Töpfe. Er lenkt die Geschicke hier mit seiner Mutter. Die beiden Brüder gehen zur Hand, wenn es sie braucht. Erbaut wurde der Hof im 17. Jahrhundert, 1918 kauften ihn die Gummerers. Vater Sepp begann mit dem Weinbau. In den 1980er-Jahren lud er dann zum ersten Mal zum Törggelen. „Mein Tata liebte die Geselligkeit, und als Koch lag es ihm am Herzen, seine Arbeit und den Hof den Menschen näherzubringen.“ Gummerer eilt nach draußen: Er hat ein Hupen gehört. Der Metzger ist da, er lädt bereits das bestellte Fleisch ab. „Wir verwerten alle Teile der Tiere“, erklärt Gummerer. So wie es schon einmal war. Am Gummerer Hof will er Gäste und Besucherinnen zur Tradition der alten Törggelezeit hinführen, sie zu „vergessenen Wurzeln zurückbringen“.

Wo genau der Ursprung des Eisacktaler Törggelens liegt, ist nicht vollständig geklärt. Fest steht: Der Begriff geht auf das lateinische „torquere“ zurück. Das bedeutet „pressen“ oder „drehen“ und gibt der Torggl ihren Namen – jenem Raum, in dem in früheren Zeiten die Traubenpresse stand. Dort hinab stiegen Südtiroler Weinbauern und Händler von nördlich des Brenners einst, um im Spätherbst den neuen Wein zu verkosten. Im Eisacktal entstand die Tradition, zum Wein auch am Hof zubereitete Speisen und geröstete Kastanien zu reichen. Ob den Bergbauern zum Dank, die das Vieh der Weinbauern im Sommer auf ihren Wiesen weiden ließen, oder als herbstliches Erntedankfest für Nachbarn und Verwandte – der Brauch hielt sich jedenfalls über Jahrhunderte. Bis heute. Wenn auch in vergangenen Jahrzehnten die schöne Tradition manchmal der Geldmacherei weichen musste.

Mit dem Aufstieg Südtirols zum populären Urlaubsziel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckten findige Gastwirtinnen und Touristiker den alten Eisacktaler Brauch als lukratives Geschäft – und nahmen es mit der Tradition nach und nach nicht mehr so genau. Törggelen wurde bald fast überall im Land angeboten, auch in Gegenden, wo weder Wein noch Kastanien gedeihen. Und in Gastlokalen ohne Felder, Wiesen, Ställe. Große Reiseunternehmen aus Deutschland und Österreich organisierten Törggeletrips nach Südtirol. Angeboten wurde nicht mehr, was der Hof zu bieten hatte, sondern was gefragt war. Sprudelnde Industriegetränke statt hausgemachte Säfte. Deftige Schlachtplatten mit Rippchen, Speck, Blutwurst und Surfleisch, vielfach von nicht heimischen Schweinen. Kastanien, von irgendwo zugekauft. Wein, nicht selten von weit her. Dazu Ziehharmonikabeschallung. Weil da der Wein schneller floss. Spätestens in den 1990er-Jahren war das Törggelen vielerorts zum Massenprodukt verkommen. Doch diese Zeiten sind – zum Glück – vorbei. Auf zahlreichen Eisacktaler Törggelehöfen lassen junge Gastgeber, Bauern und Winzerinnen den Ursprung der Buschenschank-Tradition neu aufleben. Mit historischen Gerichten – und zeitgenössischer Verve. Wie auf dem Gummerer Hof.

Ab und zu gibt es Kritik von Gästen, wenn wir Ende September zum Törggelen keine Kastanien braten, weil sie an den Bäumen noch Zeit zum Reifen brauchen.

Johannes Meßner, Burgerhof

Oder auf dem Röckhof bei Villanders, der seit 250 Jahren in Besitz der Familie Augschöll ist.

Durch das offene Fenster ziehen duftende Schwaden. Es riecht nach frischem Bratfett. Am Küchentisch sitzt Maria. Geschickt füllt die 94-Jährige Zwetschgenmarmelade in die Krapfen, die Schwiegertochter Frieda in Fett goldig backt. Enkelin Carmen Augschöll beobachtet das eingespielte Team lächelnd. „Die Oma wacht immer noch über Haus und Hof“, sagt sie. In der Stube der einstigen Hofstelle, die heute ein unterirdischer Felsstollen mit dem neuen Haus verbindet, hat Maria vor über 60 Jahren begonnen, „die Fremmen“ zu bewirten. Die Fremden, die Gäste. Die Rezepte von damals hat sie weitergegeben – an Sohn Konrad, seine Frau Frieda und die Enkel Carmen und Hannes. Carmen Augschöll ist 2021 aus Wien an den Röckhof zurückgekehrt, mit 30 Jahren und viel Erfahrung in der Weinbranche. Die Weinakademikerin führt nun den Familienbetrieb mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder, der in Deutschland Weinbau und Önologie studiert hat. Zum Törggelen gibt es immer noch „wenig Fleisch, Knödel, grüne Villanderer Krapfen, Kartoffelblattlen mit Kraut“, erklärt Augschöll. Wie zu Omas Zeiten. Die Enkel aber haben die klassischen Gerichte ins Heute geholt: Wer kein Fleisch oder tierische Produkte isst, kommt am Röckhof genauso auf seine Kosten.

Den Augschölls, wie auch den Gummerers, geht es darum, die Tradition wiederzubeleben, sie mit zeitgenössischen Ideen anzureichern. Manchem Gast muss die alte Tradition erst wieder neu nahegebracht werden. Das erfüllt mit Zufriedenheit, kann aber manchmal aber auch ganz schön anstrengend sein. Mache ich all die Arbeit umsonst? Die Frage stellt sich Philipp Gummerer, wenn er Anfragen erhält, was denn „eine Übernachtung mit Törggelen“ am Gummerer Hof koste. „Und Musik ist auch dabei, ja?“ Als wäre Törggelen ein schnödes All-inclusive-Event. Für Gummerer ist es wichtig, das Erbe seines Vaters hochzuhalten: „Bei mir gibt es kein Halligalli, keine Massenware. Ich erzeuge und verkaufe meine Produkte mit Herzblut.“ Eine seiner Leidenschaften ist der Speck. Den stellt er selbst her, bei konstanten Temperaturen unter zehn Grad hängt das Fleisch in einer Kammer hinter dem Hof ab.

Quietschend öffnet sich die Tür. Gummerer läuft zwischen den Hammen durch, die über seinem Kopf hängen. Sanft klopft er sie ab – je hohler der Ton, desto reifer der Speck. Gummerer nickt zufrieden. Er hält selbst derzeit drei Schweine. Gutmütig grunzend tappen die Schwäbisch-Hällischen durch das schlammige Gehege gleich hinter dem Gemüsegarten. Ende Oktober haben die Kastanien- und Nussbäume ihre Früchte bereits abgeworfen, der Garten ist so gut wie leer geerntet. Was Gummerer den Gästen von September bis Mitte Dezember zum Törggelen auftischt, stammt zu 80 Prozent von seinem Betrieb oder lokalen Bauern. „Natürlich muss ich einiges zukaufen, Spinat für die Schlutzkrapfen etwa, oder Kraut. Alles selbst anzubauen ist nicht zu schaffen.“

Kürbis, Sauerkraut und Getreide für ihr Sauerteigbrot muss auch Familie Augschöll von auswärts an den Röckhof bringen. Sie beziehen alles von Bio-Landwirten oder befreundeten Bauern. Gemüse, Kastanien und Obst für die Marmeladen haben sie selbst. „Butter, Graukäse, Speck und Kaminwurzen machen wir am Hof“, sagt Carmen. „Und selbstverständlich die Hauswürste – die stellt mein Vater her.“ Was nicht am Hof verarbeitet wird, landet nicht auf der Speisekarte: „Auf Rippchen oder Surfleisch können wir deshalb verzichten.“ Das fällt auch gar nicht weiter auf. „Beim Hauptgang, der andernorts üblicherweise fleischlastig ist, sind unsere Gäste oft schon zufrieden und satt.“ Denn seit die Geschwister das Ruder am Röckhof übernommen haben, laufen die Dinge langsamer. Mehrere kleine Gänge statt einer üppigen Speisenfolge sorgen für Entschleunigung, mehr Zeit, sich auf das Essen einzulassen, und Genuss.

Was am Röckhof von Ende September bis Ende November unter „Slow Törggelen“ stattfindet, spielt sich unter ganz ähnlichen Vorzeichen auch wenige Kilometer nordwärts ab. Die kurvenreiche Straße zum Burgerhof endet auf 750 Meter Höhe vor einem dreigeschossigen Bauernhaus. Davor sitzt Johannes Meßner. Er legt gerade eine Pause ein. Auf seinem Schoß: sein kleiner Sohn. Der ist gerade mit dem Großvater von einem Ausflug zurückgekommen und beißt geräuschvoll in einen Keks. Lautlos fallen die Blätter der Weinreben auf den massiven Holztisch vor dem Haus. Bei Johannes Meßner bestimmt nicht die Nachfrage das Angebot auf der Speisekarte. Das Angebot genügt sich selbst. „Wir wechseln jede Woche das Menü, je nachdem, was wir auf dem Feld, in Kühlzelle und Gefriertruhe finden“, erklärt Meßner das Konzept am Burgerhof. 2016 hat er ihn vom Vater übernommen. Den Buschenschank am elterlichen Betrieb – der Hof ist seit 1843 in Familienbesitz, erbaut wurde er vermutlich schon im 12. Jahrhundert – haben Meßner und seine Frau Katrin 2018 eröffnet. Dass die Natur die Karte bestimmt, ist nicht selbstverständlich: „Ab und zu gibt es Kritik von Gästen, wenn wir Ende September zum Törggelen keine Kastanien braten, weil sie an den Bäumen noch Zeit zum Reifen brauchen.“ Auf den Tisch kommt nur, was die Familie eigenständig anbaut, erntet, verarbeitet: Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, Äpfel, Getreide. „Roggen für das Brot, Dinkel für Süßspeisen, Buchweizen für Knödel und Nudeln“, so Meßner. Der 34-Jährige ist gelernter Koch. Inzwischen hat er sich seinen blauen Schurz umgebunden und steht am Herd. Die Pause ist zu Ende. Geschwind hackt Meßner eine Zwiebel klein, brät sie in der Pfanne an und mengt grüne Bohnen unter. Die werden als Beilage zum Saltimbocca serviert. Die Kälber, die das Fleisch dafür liefern, weiden das ganze Jahr auf den umliegenden Wiesen.

Neues wagen. Ohne das Alte, die Tradition, das Bewährte zu vergessen. Das zeigt sich auch im Inneren von Gummerer, Röck- und Burgerhof: An den Wänden reihen sich alte Familienfotos an Urkunden, die die lange Geschichte der Höfe belegen. Philipp Gummerer bewahrt Speisekarten aus den 1980er-Jahren auf. Als Zeugen für die Entwicklung, die es über die Generationen gegeben hat. Carmen Augschöll lädt in die alte Bauernstube, in der nichts verändert wurde, seit ihre Oma dort Gäste bewirtet hat. Gleich daneben: die Räucherstube mit vom Ruß geschwärzten Mauersteinen. Darin werden heute nicht mehr nur Speck und Kaminwurzen vom Rauch des Feuers umhüllt, deren typisches, leicht kratziges Aroma zum Törggelen dazugehört. Als vegetarische und vegane Variante gibt es geräucherte Karotten. Karotte, diesmal fermentiert, dient auch als Graukäse-Ersatz. Das Tatar von der Roten Bete und die Kartoffelblattlen ohne Ei im Teig haben selbst Oma Maria überzeugt. Bei den Knödeln möchte Familie Augschöll in Zukunft auf regionale Leinsamen statt Ei als Bindemittel setzen. Am Burgerhof tüftelt auch Johannes Meßner eifrig an Alternativen, daran, „klassische Produkte und Gerichte anders, neu zu interpretieren“, wie er sagt. Für die Kürbisteigtaschen braucht es nicht unbedingt Ei. Die Füllung lässt sich anstelle von Käse wunderbar mit Ingwer würzen. Eine Apfel-Sellerie-Suppe trifft jeden Geschmack. Bei der Karottentorte fällt gar nicht auf, dass sie vegan ist. „Natürlich ist ein Törggelen ohne tierische Produkte für den Koch Herausforderung und Aufwand zugleich“, sagt Meßner. „Aber man macht es gerne.“

Neue Wege beschreiten Meßner, Augschöll und Gummerer auch in den Weinbergen. Zu ihren Höfen gehören jeweils nur wenige Hektar Reben. Die Vielfalt dort ist allerdings immens. Wie die Arbeit und der Innovationswille, den die drei in die Trauben stecken. Philipp Gummerer baut eine Handvoll Rebsorten an. Die seines Vaters. Darunter eine ganz besondere: den Blaterle – „die älteste autochthone Weißweinsorte in Südtirol“, sagt er. Die Urtraube wurde früher kultiviert, um sie dem Rotwein beizumengen. Vater Sepp begann, aus dem Blaterle Sekt herzustellen. Den bietet der Sohn bis heute seinen Gästen an. Wie Gummerer kann Johannes Meßner auf die Arbeit seiner Eltern aufbauen. Sie gehörten Anfang der 1980er-Jahre zu den ersten Südtiroler Landwirten, die auf biologischen Anbau setzten. „Damals wurden sie als Spinner belächelt, für rückschrittlich gehalten. Weil sie auf synthetische Mittel im Weinberg verzichteten“, berichtet Meßner. „Heute ist es genau umgekehrt.“ Ohne jegliche Hilfsmittel kommen die vier Sorten aus, die am Burgerhof wachsen. Am Röckhof ließ sich Vater Konrad, der den Weinbau etabliert hat, erst nach und nach überzeugen. „Der konventionelle Anbau mit dem Einsatz von chemischen Spritzmitteln hat ihm ein Gefühl von Sicherheit gegeben.“ Carmen Augschöll versteht ihren Vater. „Es war schwierig für ihn, nachzuvollziehen, was wir vorhaben.“ Mittlerweile hat sich Konrad mit der Wirtschafts- und Denkweise der Kinder angefreundet. Und ist stolz auf sie.

Den jungen Gastgebern, Bauern, Winzerinnen aus dem Eisacktal geht es darum, ehrlich und authentisch zu sein, sich wohlfühlen und mit der eigenen Arbeit identifizieren zu können. Das ist der neue Geist, der mit Carmen Augschöll, Johannes Meßner und Philipp Gummerer in die uralten Hofmauern eingezogen ist. Auch dank der Erfahrungen, die sie von vielen Reisen und Aufenthalten im Ausland mit nach Hause gebracht haben. „Ich habe die Freude und Wertschätzung für daheim wiederentdeckt“, sagt Gummerer. Augschöll fühlt: „Ich bin angekommen.“ Meßner sieht seine Zukunft hier, an den Hängen über Brixen. Die drei haben die Prioritäten neu gesetzt: zuerst die Qualität. Nur wenn die stimmt, dann wird das Törggelen zum wahren Genuss.

Weitere Artikel Kulinarik

Hier finden Sie mehr Artikel