Kurvig. Steil. Schnell.

Linda Stricker spricht im Pistengespräch über das Skifahren von früher und heute, skurrile Erfindungen, glückliche Tage, schwere Schicksalsschläge – und eine Abfahrt mit Baby im Bauch.

8 Minuten

Der Schnee auf der Plose glitzert unter der Sonne, die vom wolkenlosen Himmel scheint. Linda Stricker kommt herbeigeeilt. „Auf solche Termine freue ich mich“, sagt sie zur Begrüßung und strahlt. „So kann ich endlich mal wieder Skifahren.“ Die Plose kennt sie in- und auswendig. Ihr verstorbener Mann, die Südtiroler Skilegende Erwin Stricker, hat hier den Grundstein seiner Karriere gelegt: Als junger Bursche gewann er das legendäre Stadtlrennen. „Ich fahre nur noch ganz gemütlich“, sagt die ehemalige Rennläuferin und legt dann los, elegant wie eh und je – gleichzeitig volles Tempo, sodass man ihr kaum hinterherkommt. Geplaudert wird beim Hochfahren mit Blick auf die Dolomiten und mittags in der Pfannspitzhütte bei saftigen Rippelen. Einen schöneren – und passenderen – Ort für dieses Gespräch gibt es kaum.

Frau Stricker, Sie sind in Holland geboren und größtenteils dort aufgewachsen. Ich habe nachgeschaut: Der höchste Punkt des niederländischen Stammlandes ist der Vaalserberg, 322,5 Meter über dem Meer. Wie um Gottes Willen sind Sie zum Skifahren gekommen?

Ich kam in Amsterdam zur Welt. Als drittes von vier Kindern. Unser Vater war Pilot und verrückt nach Sport. Tennis, Rudern. Im Hockey war er 62-facher Nationalspieler, nahm an zwei Olympischen Spielen teil, gewann einmal Silber, einmal Bronze. Er war um die dreißig, da entdeckte er das Skifahren für sich – und für uns. Also fuhren wir von da an mindestens einmal im Jahr 900 Kilometer nach Gargellen in Vorarlberg. Mit unserem VW Käfer, die größeren Kinder auf der Rückbank, die kleinen im Kofferraum. Später, als mein Vater für Swissair flog, zogen wir an den Zürichsee. Da packte auch mich dann endgültig das Skifieber. Der Dorftrainer in Gargellen sah irgendwann, dass ich wohl nicht ganz untalentiert war, so durfte ich mit den einheimischen Kindern trainieren. Bald fuhr ich Rennen – und gewann die holländischen Jugendmeisterschaften. Schließlich nahm ich bei den „Flachlandmeisterschaften“ teil …

Den … was?

Den Flachlandmeisterschaften! Da fuhren wir Holländer mit den Belgiern, den Engländern und den Dänen um die Wette. Ich gewann und nahm wenig später an Europacup und Weltcup teil.

Was war Ihr größter Erfolg?

Ach, das ist nicht der Rede wert. In St. Moritz, bei der WM 1974, da wurde ich 11. In der Kombination. Und 20. im Slalom. Und wurde zur „Miss Weltmeisterschaft“ gewählt, zur schönsten Skifahrerin der WM! Ich war kein Star, aber die Zeit bleibt unvergesslich.

Warum?

Früher gab es große Namen, die weit über das Skifahren hinausstrahlten. Das waren Stars! Wenn die fuhren, stand die Welt still. Die Menschen hockten den Atem anhaltend am Radio oder versammelten sich vor den Schaufenstern der Elektrogeschäfte. Das war wie bei den großen Boygroups. Oder den Supermodels der 1990er-Jahre: Naomi Campell. Claudia Schiffer. Heute? Fragen Sie mal die Leute auf der Straße, kennen die heute ein Model? Skifahrer? Ein, zwei, höchstens. Das waren damals alles Individualisten, Freigeister. Heute sind sie alle abgeschirmt, alles ist reglementiert, ein Schutzschild um die Mannschaft herum. Da kommt keiner mehr ran.

Auch Erwin Stricker war ein Star. Ein wilder Hund. Teil der berüchtigten „Valanga Azzurra“: Piero Gros, Gustav Thöni, er. Wie haben Sie sich kennengelernt?

Das war bei einem Europacupfinale in Mayrhofen. Ich war zufällig im gleichen Hotel wie die italienischen Männer einquartiert. Ich erinnere mich noch genau, ich saß auf einer Schaukel im Park, da kam er daher mit seinen blonden Locken und sagte: „Dich heirate ich!“ Ich war baff. Der spinnt, dachte ich! Drei Jahre später standen wir vor dem Traualtar.

Frauenprofis und Herrenprofis begegnen sich selten während der Saison. Die einen fahren in Österreich, während die anderen in den USA weilen, wie konnte das gut gehen?

Nein, nein, wir zwei waren immer beisammen. Erwin wusste schon, was zu tun war. Er war ja ein Fuchs und sorgte dafür, dass ich mit der italienischen Herrenmannschaft mittrainieren konnte.

Die Freundin mit beim Training? Auch wenn Sie selbst Rennfahrerin waren, das war doch sicher verboten, oder?

Klar. Aber: Mein Opa stammt aus Surinam, meine Oma aus Indonesien. Erwin schwafelte den Verantwortlichen von Anfang an vor, dass wir bereits verheiratet seien. Als der Rennchef die Hochzeitsurkunde sehen wollte, erklärte er ihm, dass wir uns nach einem südamerikanisch-südostasiatischen Ritus vermählt hätten, da gäbe es keine Urkunde. Es war so lustig. Und ich wurde von den Azzurri wohlwollend aufgenommen.

Wie lange fuhren Sie Rennen?

1978, die WM in Garmisch-Partenkirchen, das war mein letztes Rennen. Ich war bereits schwanger, unser Sohn Tim war im Bauch mit dabei. Ich muss sagen, die Abfahrt fuhr ich da schon mit angezogener Handbremse.

Ihr Mann fuhr weiter …

Ja, aber auch nicht mehr lange. Ein Jahr noch. Er arbeitete bereits für die damals führende Sportmarke Ellesse und war mit dem Kopf schon mehr dort als bei den Rennen. Er hatte tausend Ideen, die er nach dem Karriereende verwirklichen wollte. Und er war ja auch so oft verletzt, ich sah ihn bald öfter im Krankenhaus als auf der Piste. Er war halt ein Draufgänger – beim Skifahren und auch sonst. Er hat sich jeden Knochen gebrochen, den man sich brechen kann. An seiner Seite habe ich sehr schnell gelernt, cool zu bleiben, in jeder Situation. Wenn er mitten in der Nacht wieder einmal anrief, weil er sich mit dem Jeep überschlagen hatte. „Du, Linda, ich habe …“, mehr musste er nicht sagen. Ich fragte nur, in welches Krankenhaus ich kommen musste.

Wie kamen Sie anfangs mit uns Südtirolern zurecht?

Ich sage mal so: Wir Holländer sind ein Seevolk, ein Entdeckervolk, weltoffen. Die Südtiroler sind lange Zeit hinter ihren Bergen geblieben, konservativer. Ich habe schon ein bisschen gebraucht, die hiesigen Vorzüge schätzen zu lernen: die zurückhaltende, aber ehrliche Hilfsbereitschaft, die Aufrichtigkeit. Und das Land hat sich sehr verändert, geöffnet, über die Jahrzehnte. Heute bin ich sehr froh, hier zu leben.

Und Ihr Mann, war er ein typischer Südtiroler?

Manchmal ja. Er sagte zum Beispiel immer: Meine Frau muss nicht arbeiten. Aber ich wollte! Ich hielt es nicht aus, nur am Spielplatz zu sitzen und mich mit anderen Müttern über Windeln zu unterhalten. Eine Freundin betrieb ein Pub, dort stellte sie mich als Kellnerin an. Das passte ihm, meinem eifersüchtigen Trotzkopf, natürlich gar nicht. Ein Schlag war das für ihn. Das Ergebnis: Er saß jeden Abend am Tresen, trank sein Bier und grübelte darüber nach, was er nun machen konnte. Und eines Tages kam er zu mir und bot mir an, für Ellesse das Südtiroler Verkaufsmandat zu übernehmen. Erwin dagegen rief den Qualitätsskiverleih Rent and go ins Leben.

Waren Sie beide sich ein klein wenig ähnlich – oder völlig gegensätzlich?

Er war ein Bulldozer, deshalb konnte er auch so viele Menschen begeistern und mitziehen. Ich denke, ich habe mehr das Asiatische meiner Großmutter in mir. Nicht gleich aufbrausen, abwarten. Nein, nein, was das angeht, waren auch wir völlig unterschiedlich. Wir stritten uns deshalb oft – vertrugen uns aber stets schnell wieder. Meine Großmutter und er, das war übrigens Liebe auf den ersten Blick.

Erzählen Sie!

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Wir waren in Amsterdam, er sollte sie kennenlernen. Er stieg die steilen holländischen Treppen zu ihr hoch, sie kniff ihm zur Begrüßung in den Oberarm und sagt: „Hast du Geld?“ Und dann, nach ein paar Sekunden, in denen er wortlos dastand: „Musst du nicht haben, aber es ist schon sehr bequem.“ Von da an telefonierten sie ständig. Sie brachte ihm Holländisch bei, er ihr Südtirolerisch. Er war ja ein Autodidakt bei allem.

Ihr Mann war auch ein Tüftler.

Ja, in seinem Kopf hat es ständig gearbeitet. Beim Autofahren öffnete er das Fenster und hielt die flache Hand hinaus. Ihn faszinierte, wie die Hand die Luft schnitt.

Er erfand den gebogenen Abfahrtsstock und benutzte sehr früh eine Schneekanone …

Ja. Er trainierte stets in Vintl. Da stand ein kleiner Lift an einer kurzen, aber idealen Piste. Keine Sonne – und wenn kein natürlicher Schnee lag, war es der perfekte Ort für künstlichen. Er ließ sich ein Gerät der Firma Linde liefern und stellte alsbald die erste Schneekanone auf Südtiroler Boden. Da haben alle gesagt: „Jetzt ist es endgültig vorbei, jetzt kann er sich einliefern lassen.“ Aber er trainierte, während die anderen auf Schneewetter hofften.

Was erfand er noch?

Die Geierschnabelspitzen! Er fuhr ja stets die aggressivste und engste Linie von allen – und fädelte deshalb oft ein. Da hatte er diese Idee, die Skispitze um ein paar Zentimeter zu biegen, so konnte er eben diese paar Zentimeter noch weiter ans Tor ranfahren. Auch die in die Hose integrierten Knieschützer hat er erfunden. Oder die legendären Plastikanzüge. Hui! Damit fuhren die Italiener, so hieß es bald, aufrecht schneller als die Österreicher hockend. Die wurden aber schnell verboten, zu gefährlich. Also tüftelte er weiter und entwarf einen Lederrennanzug für sich – und mich. Einen windschlüpfrigen Helm konzipierte er auch, damit brach er sich beinahe das Genick. So wie mein Vater.

Ihr Vater?

Ja, mein Vater stürzte tödlich beim Tiefschneefahren. Er prallte mit dem Kopf auf einen unter der Schneemasse versteckten Lawinenbock. Er wurde nur 60 Jahre alt.

Wie schrecklich. Ihr Mann starb auch mit 60.

Ja, beide gingen viel zu früh.

Wie kamen Sie mit dem frühen Tod Ihres Mannes zurecht?

Am Anfang war ich wütend, ja, richtig zornig. Auf ihn! Ich sagte: „Du kannst mich jetzt nicht allein lassen!“ Er hat das Leben verlassen, so wie er gelebt hatte, mit einem Rums. Er war noch in China, wo er an der Errichtung eines Skigebiets beteiligt war, dann musste er noch schnell zum Landeshauptmann, als er schließlich die Diagnose bekam, ein Tumor im Kopf.

Und dann?

Dann lag er da, im Krankenhaus, nach zwei OPs. Ich wusste, nun es ist vorbei. Er war immer wie ein Fels, er musste nie Krafttraining machen, er trug die Kraft einfach in sich. Er zwängte Menschen versehentlich in die Knie, wenn er ihnen nur freundlich die Hand geben wollte. Nun war das alles aus ihm gewichen.

Wie ging es für Sie weiter?
Ich überlegte nicht lange, sprang ins kalte Wasser und übernahm seine Betriebe. Ich konnte all die Mitarbeiter doch nicht im Stich lassen! In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns vergrößert: Die Firma Rent and go zählt 70 Mitglieds-Skiverleihe in ganz Italien, das Unternehmen Sportservice Erwin Stricker verwaltet sieben Skiverleihe, zwölf Fahrradstationen und drei Sportgeschäfte in Südtirol.

Wir sitzen hier in der Gondel, die zum oberen Ende der schwarzen Crazy Horse-Piste führt, die Ihrem Mann gewidmet ist. Was bedeutet dieser Ort für Sie?

Ich liebe diese Abfahrt. Sie ist so, wie unser gemeinsames Leben war. Kurvig. Steil. Schnell. Fahre ich sie hinab, denke ich an ihn.

Erwin Stricker, geboren 1950, war Skirennfahrer und Teil des italienischen Nationalteams. Er fuhr alle Disziplinen, war WM-Teilnehmer und bei den Olympischen Spielen 1972 in Sapporo und 1976 in Innsbruck mit dabei, zwei Mal wurde er italienischer Meister, im Skiweltcup stand er zweimal auf dem Treppchen. Er zählte zu den wildesten der wilden Generation der „Valanga Azzurra“ um Piero Gros und Gustav Thöni. 1979 beendete
er seine Karriere und wurde Unternehmer und Berater im Wintersportbereich. Schon während seiner aktiven Zeit
trug er mit wegweisenden Erfindungen zu zahlreichen Neuerungen im Wintersport und Wintertourismus, aber
auch im Fahrradbereich bei. Zuletzt war er an der Errichtung eines chinesischen Skigebietes beteiligt. Er starb
am 28. September 2010 im Krankenhaus Bozen an den Folgen eines Hirntumors.

Linda Stricker, geborene Esser, kam 1953 in den Niederlanden zur Welt, einige Zeit ihrer Kindheit verbrachte sie in der Karibik und in Zürich, früh fand sie in den Alpen zum Skisport – und wird Weltcupfahrerin und WM-Teilnehmerin. 1977 heiratete sie Erwin Stricker. Heute ist sie in Südtirol zu Hause und leitet seit dem Tod ihres
Mannes das Unternehmen Rent and go mit 70 Skiverleihen in ganz Italien, das Unternehmen Sportservice
Erwin Stricker mit sieben Verleihen, zwölf Fahrradstationen und drei Sportgeschäften in Südtirol.


Interview: Lenz Koppelstätter
Fotos: Michael Pezzei
Erscheinungsjahr: 2022

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