Musik - Kunst und Kultur

Er: „Die Musik hat mein Leben geprägt“

Sie: „Ich zeige gerne meine Wurzeln“

7 Minuten

Hans Jocher

Der Multiinstrumentalist Hans Jocher wurde 1933 auf dem Frötscherhof in Obermellaun geboren. Mit elf Jahren erlernte er sein erstes Instrument, die Zither. Sehr bald kamen Querflöte, Gitarre und viele andere Instrumente hinzu – insgesamt spielt Hans Jocher mehr als 23 Instrumente. Bereits als Jugendlicher sang er im Kirchenchor, spielte im Kirchenorchester und absolvierte auch einen Kapellmeisterkurs. Er besuchte die Lehrerbildungsanstalt in Meran und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Grundschullehrer in St. Andrä. Er leitete mehrere Orchester und Chöre, unter anderem den gemischten Chor der Lehrerbildungsanstalt und eine Mädchensinggruppe im Kloster der Englischen Fräulein. Er trat als Musikant in verschiedenen Filmen und Theaterstücken auf und spielt und singt auch heute noch gerne Volksmusik für Einheimische und Gäste.

Manuela Kerer

Die Komponistin Manuela Kerer wurde 1980 in Brixen geboren. Sie studierte Violine und Komposition am Tiroler Landeskonservatorium und parallel dazu Rechtswissenschaften und Psychologie an der Universität Innsbruck. Beide Studien schloss sie mit einer Promotion ab. Kerer legt bei ihren Kompositionen zeitgenössischer Musik Wert auf das Ausloten und Verschieben von Grenzen des musikalischen Ausdrucks und den Einsatz teils ungewöhnlicher Instrumente. Ein weiterer Schwerpunkt sind musiktheatralische Werke und Opern. Aktuellstes Opernprojekt ist „TOTEIS“ mit Uraufführung der kammerorchestralen Fassung im September 2020 in Wien und Uraufführung der großen Orchesterversion in Bozen im März 2021. Sie komponiert unter anderem für Ensembles wie Kaleidoskop Berlin und Klangforum Wien. Manuela Kerer erhielt zahlreiche Preise, darunter das österreichische Staatsstipendium für Komposition und den Walther-von-der-Vogelweide-Preis.

Herr Jocher, wie viele Instrumente spielen Sie?

Hans Jocher: Lange habe ich es selbst nicht gewusst, dann habe ich einmal nachgezählt und bin auf 23 gekommen, aber es werden wohl noch mehr sein. Geige, Harfe, Hackbrett, Zither, Dudelsack, Maultrommel, Raffele, Drehleier, Trompete ...

Manuela Kerer: 23 – das ist wirklich beeindruckend!

Mit welchem Instrument haben Sie begonnen?

Hans Jocher: Das war eine Zither, die mir 1944 ein Onkel geschenkt hat. Sie ist heute ungefähr 160 Jahre alt und ich spiele immer noch darauf. Ein Vorläufer der Zither ist ja das Raffele, mit dem bin ich in verschiedenen Filmen zu sehen. Zum Beispiel in „Der Tote vom Sarntal“ oder „Der Judas von Tirol“.

Manuela Kerer: Ein Raffele kommt auch in meiner Oper „TOTEIS“ vor.

Um Ihre erste Zither rankt sich eine besondere Geschichte, die mit einem amerikanischen Bomber zu tun hat.

Hans Jocher: Bei der Zither fehlten der Stimmschlüssel und die Ringe, mit denen man die Saiten zupft. Solche Dinge waren damals schwer zu bekommen. Am 29. Dezember 1944 wurde oberhalb von Mellaun ein amerikanischer Bomber abgeschossen – ein Flügel landete nicht weit von hier im Wald, der andere weiter oben, unterhalb von Kreuztal, und der Rumpf stürzte in den Garten eines Bauernhofs. Überall lagen kleine Teile zerstreut umher. Ich holte mir das Metall für die Ringe und für den Stimmschlüssel, aus verschiedenen Drähten habe ich Saiten gewickelt. Der Vater meiner späteren Frau hatte den Piloten zuvor aus dem Wald geholt, andernfalls wäre er wohl erfroren. Der ist mit Hund und Jagdgewehr rauf und hat einen halben Tag nach ihm gesucht, aber der Pilot war unbewaffnet und hat sich wohl noch mehr gefürchtet als mein Schwiegervater. Zu der Familie des Piloten, der inzwischen verstorben ist, gibt es heute noch Kontakt – sie kommt uns regelmäßig besuchen.

Wie sind Sie beide zur Musik gekommen?

Hans Jocher: Musik hat mich eigentlich seit frühester Kindheit begleitet. Bei uns zu Hause in der Stube gab es ein Grammofon – so einen richtig großen Kasten – da bin ich als kleiner Bub davor gestanden und habe dirigiert.

Manuela Kerer: Mein erstes Instrument war das Hackbrett. Damit habe ich begonnen, als meine Schwester Zitherunterricht bekam. Ich wollte auch ein Instrument lernen, war damals vier Jahre alt und konnte natürlich noch keine Noten lesen. Also hat mir der Lehrer Farben auf die Saiten und die Notenblätter gemalt. Später bin ich zur Geige gewechselt, während meine Geschwister alle zur Blasmusik sind, wie das in Südtirol üblich war.

Hans Jocher: Die Blasmusik ist auch bei mir als Zweites dazugekommen. Mein Bruder hat Klarinette gelernt und wollte abends im Dunkeln nicht allein durch den Wald gehen, also hab ich ihn zum Unterricht begleitet. Der Kapellmeister hat wohl meine Begeisterung gesehen und mir eine Querflöte in die Hand gedrückt. Von da an durfte ich mitlernen. Das war 1945 – im Jahr darauf hab ich bereits bei der Musikkapelle mitgespielt. Damals hat man eigentlich überall Musik gemacht, sogar aufs Feld hab ich die Instrumente mitgenommen, beim Pflügen sind die Pferde alleine in der Furche gegangen und ich mit der Pikkoloflöte nebenher. Zum Schafehüten hab ich die Klarinette, das Flügelhorn oder auch eine selbst gebastelte kleine Zither mitgenommen. Später hat mich der damalige Orchesterleiter zum Kirchenchor geholt, mir Geigenunterricht gegeben und mich zu einem Kapellmeisterkurs geschickt – das passierte alles, noch bevor ich 13 oder 14 Jahre alt war.


Trotzdem haben Sie die Musik nie zum Hauptberuf erkoren …

Hans Jocher: Nein, ich wollte immer Lehrer werden. Vor allem wegen meiner Grundschullehrerin, die ich sehr verehrte. An der Lehrerbildungsanstalt in Meran habe ich Orgel lernen dürfen, ebenso Klavier und Harmonielehre. Musik war immer Teil meines Lebens, sie hat mir auch beim Militärdienst geholfen …

Erzählen Sie!

Hans Jocher: Ich war mitten in der Ausbildung, als die Einberufung kam, und ich hätte eigentlich während des Militärs nicht in Meran bleiben dürfen. Aber der Kapellmeister suchte noch einen Trompeter für die Militärmusik und da hat mich ein Kollege empfohlen. So musste ich nicht fort.

Frau Kerer, auch in Ihren Kompositionen kommen seltene Instrumente zur Geltung.

Manuela Kerer: Bei mir bestimmt das Thema die Instrumente, und obwohl ich zeitgenössische Musik mache, zeige ich auch immer wieder gerne meine Wurzeln. Da kommt dann eben das Raffele in einem Stück vor, in dem man es nicht erwartet! Aber ich habe immer auch Klavier gespielt und später am Konservatorium ebenso Kontrabass. Und ja, zuweilen verwende ich auch ungewöhnliche Instrumente vom Eierschneider bis zur elektrischen Zahnbürste.


Wie wichtig ist es beim Komponieren und auch beim Umgang mit den Musikern, dass man mehrere Instrumente beherrscht und weiß, was damit alles möglich ist?

Manuela Kerer: Das hilft ganz sicher. Vor allem, dass ich mich mit der Geige gut auskenne, ist bei besonders schwierigen Passagen wichtig. Wenn zum Beispiel Musiker sagen „Das geht mit meinem Instrument nicht!“, dann kann ich es ihnen vorspielen. Das überrascht sie und schafft Vertrauen.


Wie wurden Sie musikalisch geprägt?

Manuela Kerer: Ich glaube, das Besondere bei uns war die Stille ab und an. Ich erinnere mich, dass bei vielen Freunden andauernd das Radio dudelte oder auch der Fernseher. Das war bei uns nicht so. Das hat mich sicher genauso geprägt wie das elterliche Geschäft für Haushaltswaren, in dem ich praktisch aufgewachsen bin. Dort gab es den schon erwähnten Eierschneider. Aber woran ich mich ganz stark erinnere, sind die riesigen Packen Zeitungspapier, in die das Porzellan eingewickelt wurde, und die zugehörigen Geräusche oder der Ton, wenn Glas oder Porzellan zum Klingen gebracht wird, um zu prüfen, ob es in Ordnung ist.

Sie verwenden in Ihren Kompositionen nicht nur ungewöhnliche Instrumente, Sie vertonen auch ungewohnte Themen. So zum Beispiel einige Artikel des italienischen Strafgesetzbuches oder Ihre Heimatstadt Brixen. Wie klingt bitte schön Brixen?

Manuela Kerer: Sehr vielfältig. Da sind die Stimmen verschiedener Menschen drin und es ist nicht nur laut, sondern leise und natürlich sind in einer Bischofsstadt auch die Glocken des Doms zu hören. Die zeitgenössische Musik ist ja leider einem sehr kleinen Publikum vorbehalten, da sind oft mehr Menschen auf der Bühne als davor. Daher wollte ich unbedingt einmal dorthin, wo sehr viele Leute sind, und habe dieses Stück zur Eröffnung des Brixner Altstadtfestes aufgeführt. Ich bin der Meinung, dass viele Menschen gar nicht wissen, was ihnen entgeht. Musik ist auch Gewohnheitssache, wenn man mit etwas aufwächst, dann hört man das ganz anders, als wenn es ganz neu ist. Da sind wir leider sehr einseitig geprägt über das Radio.


Und wie klingt das italienische Strafgesetzbuch?

Manuela Kerer: Da sind zum Teil ganz kuriose Gesetze enthalten, beispielsweise wenn es um sogenannte obszöne Gesten in der Öffentlichkeit oder um Bigamie geht. Die Bigamie hab ich ganz plakativ vertont: Das startet mit zwei Stimmen und dann kommen immer mehr dazu. Bei den obszönen Gesten müssen die Streicher an einer Stelle Ohrenstöpsel zwischen die Saiten stecken – in der neuen Musik geht es auch um die Präparierung und Erweiterung des Instruments, um einfach noch weiter über den Tellerrand hinauszuschauen.

Wie viel an Ihrer Musik ist Südtirol und wie viel ist London oder New York, wo sie auch Zeit verbracht haben?

Manuela Kerer: Das eine sind die Wurzeln, die bei mir ebenso wie bei Hans in der echten Volksmusik liegen, nicht in der volkstümlichen, das wird ja heute leider oft verwechselt. Und spätestens in der Schule kommt dann die Kunstmusik dazu – von Johann Sebastian Bach über Ludwig van Beethoven bis Alban Berg, um auch einen zeitgenössischen Komponisten zu nennen. All diese Musiker haben ebenfalls Zitate aus der Volksmusik verwendet, weil diese zu ihren Wurzeln gehörte. Aber natürlich prägen einen genauso Reisen, andere Musikkulturen und fremde Instrumente. Wichtig sind ebenso ideelle Einflüsse, in dem Sinne, dass Musik auch immer politisch ist und sein muss und immer auch ein Spiegel der Gesellschaft ist.


Sie haben nicht nur Violine und Komposition studiert, sondern auch Psychologie und Rechtswissenschaften – und in beiden Fächern sogar
promoviert. Woher kommen diese breit gefächerten Interessen?

Manuela Kerer: Ich glaube, dass im Grunde jeder Mensch breit gefächerte Interessen hat, so wie auch ich. Am Anfang dachte ich, ich mache einfach den ersten Studienabschnitt und weiter komme ich eh nicht, weil es zeitlich gar nicht möglich ist, weil ich einfach zu viel anderes mache. Diese Leichtigkeit hat mir sicher geholfen, gerade durch das schwere Jurastudium zu kommen. Zudem finde ich, dass Psychologie und die Rechtswissenschaften sehr gut mit dem Komponieren zusammenpassen und meine Kompositionen sehr bereichern.

Frau Kerer, Herr Jocher, ein besonderer Moment Ihrer musikalischen Karriere war …?

Manuela Kerer: Einer dieser Momente hängt ebenfalls mit Brixen zusammen. Bei der ersten Ausgabe des Wasser-Licht-Festivals 2017 habe ich auf der Halbinsel beim Zusammenfluss von Eisack und Rienz für mehrere Konzerte fünf Flügel aufgestellt. Die Konzerte fanden zu Sonnenaufgang um fünf Uhr früh statt. Man hatte uns gewarnt, dass da wohl kaum jemand kommen würde. Aber gleich beim ersten Konzert waren 800 Zuschauer da. Das war auch wegen des besonderen Ortes und der Morgenstimmung in der Natur für mich ein besonderes Ereignis.

Hans Jocher: Musik hat mein ganzes Leben stark geprägt, da gab es viele besondere Momente. Ich war in vielen Ländern unterwegs und habe Musiker aus der ganzen Welt kennengelernt. Oder sie sind zu uns gekommen – ganz besonders erinnere ich mich an die Begegnungen mit Musikern aus Japan und daran, wie sie die Zither spielen.

Welche Projekte beschäftigen Sie beide aktuell?

Manuela Kerer: Vor allem die Oper „TOTEIS“, da geht es um die Geschichte der Viktoria Savs, die als Mann verkleidet in den Ersten Weltkrieg gezogen ist, von den Nazis als sogenanntes Heldenmädel verherrlicht wurde und schließlich 1979 vereinsamt in Salzburg gestorben ist. Eine Figur, welche die Nähe zu NS-Größen gesucht hat und sich auch später nie von ihrer damaligen Rolle distanziert hat.

Hans Jocher: Auch ich bin noch längst nicht im musikalischen Ruhestand. Ich bin noch immer in den verschiedenen Hotels der Umgebung unterwegs, viele Stammgäste fragen gleich, wenn sie ankommen, ob der Hans wieder spielt.

Text: Ariane Löbert
Fotos: Michael Pezzei
Erscheinungsjahr: 2020

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